Spirituelle Gebote und Liebe

 

 

Kürzlich (2013) kam ich mit einem jungen Mann ins Gespräch, der ein „spiritueller Freiheitskämpfer“ sein wollte und auch überzeugend lebte.

Er kam zu mir, um mich zu fragen, warum ich so viel Wert auf spirituelle Gebote, Regeln und Energiegesetze legte und darauf drängen würde, dass Menschen auf dem spirituellen Weg sich intensiv damit befassen und auseinandersetzen sollten.

Etwas erstaunt war ich schon, denn eigentlich hatte ich in allen Schriften klar dargelegt, dass es um Schutz, intelligente Beteiligung des Egos auf dem Weg und aktive Läuterung geht, und nicht um Einkerkerung und Dogmatismus.

Da ich aber ahnte, worauf er hinauswollte, probierte ich eine ganz neue Vorgehensweise, um meinen Standpunkt zu verdeutlichen. Also erklärte ich mich nicht, sondern fragte ihn einfach um Erklärung seines Standpunktes.

„Mein Weg ist der Weg der Liebe“, antwortete er. „Ich nehme die Liebe als Mittelpunkt meines Weges und das reicht mir dann. Dort habe ich alles, was ich benötige, dann brauche ich keine Regeln mehr!“

Ich nickte und fragte: „Und wie sieht das dann im Alltag aus? Wie zeigt sich deine Liebe?“

Er räusperte sich: „Nun ja, das ist doch ganz einfach. Ich tue niemandem das an, was er mir nicht auch tun darf. Das bedeutet, dass ich ehrlich bin, mir Mühe gebe, von unnötiger Verletzung eines anderen Lebewesens Abstand nehme und mich bemühe, nicht zu verurteilen, was ich nicht kenne! Und mehr in dieser Art.“

„Oh“, erwiderte ich. „Also meintest du nicht einfach nur das Gefühl Liebe?“

„Nein, selbstverständlich nicht!“ Etwas indigniert schaute er mich an. Er schien zu glauben, dass ich ihn unterschätzen würde, das konnte ich deutlich sehen. Das tat ich aber ganz und gar nicht, im Gegenteil! Daher bat ich um nähere Erläuterungen.

„Ja“, sagte er darauf hin, „jeder weiß doch, dass das Gefühl Liebe mehrere Ebenen hat, von sexueller Liebe, fehlgeleiteter Liebe bis zur bedingungsfreien Liebe. Wenn ich das ‚Gefühl der Liebe‘ predigen würde, könnte ich doch unfreiwillig die Leute zur Sentimentalität führen, die dann wiederum eine gefühlslastige Verblendung herbeiführt und ihnen eher die klare Sicht raubt, als sie zu verleihen!“

Ich nickte und staunte nicht schlecht, dass er das alles so gut durchdrungen hatte. Immerhin war er noch ziemlich jung.

Also fragte ich weiter: „Und das bedeutet, dass Liebe also weit mehr ist als ein Gefühl?“

„Ja“, sagte er. „Liebe ist Tat! Liebe ist Gutes tun, sich einzusetzen für das Wohl anderer Wesen, egal ob Mensch, Tier oder Natur. Liebe ist Akzeptanz, sie richtet und streitet nicht um Nichtigkeiten, sie kann aber auch auf faire Art und Weise streng sein, wenn es das Leben des Gegenübers schützt.“

Ich nickte, denn ich empfand seine Stellungnahme als wunderbar. Nur verstand ich nicht, worin er dann den Unterschied zwischen „meinem“ und „seinem“ Weg sah?

Also ging ich in die Offensive und fragte: „Dann ist es Liebe, wenn die Eltern darauf achten, dass die Kinder nicht in das Feuer greifen oder zu tief ins Wasser gehen, damit sie nicht ertrinken oder sich verbrennen? Denn sie kennen die Gefahren, die damit verbunden sind, ja nicht?“

Empört schaute er mich an! „Natürlich! Was fragst du mich das? Das weiß doch jeder Mensch, dass Liebe auch mit Beschützung zu tun hat. Worauf willst du eigentlich hinaus?“

Nun musste ich aber doch lachen und fragte ihn: „Wo liegt dann aber der Unterschied zwischen unseren Wegen? Du hast mir doch genau die Definitionen darüber gegeben, was Liebe bedeutet, und sie sogleich als spirituelle Gesetze präsentiert. Ist das dann nicht doch ein und dasselbe, Liebe und spirituelle Gebote? Sind die spirituellen Gebote dann nicht praktizierte Liebe zur Beschützung und Anleitung derjenigen, die bislang nicht wissen, wovor sie beschützt werden?“

Er stutzte und schaute mich eine lange Weile ganz nachdenklich an. Dann hob er beide Hände, begann laut zu lachen, stand auf, nahm mich in die Arme und sagte:

„Wir beiden wollen das Gleiche, das habe ich jetzt begriffen. Du hast alles definiert und praktisch anwendbar dargelegt, und ich biete die Überschrift für diejenigen, die alles selbst entdecken wollen. Ich erkenne gerade, dass die Liebe doch noch mehr Gesichter hat, als mir bewusst gewesen war.“

Zum Abschied reichten wir uns die Hände und freuten uns, eine so wunderbare Synthese aus scheinbar völlig verschiedenen Wegen erschaffen zu haben.

Seither sind wir gute Freunde und führen so manch angeregte Diskussion, um unsere vermeintlichen Gegensätze auf einer neuen Ebene zu vereinen. Selten habe ich so einen spannenden Gesprächspartner gefunden wie ihn.

 

Manuela Schindler
31. Juli 2013